Das Koloskop wird in den gut gesäuberten Dickdarm eingeführt.

Darmkrebs besitzt eine Eigenheit, die ihn von den meisten anderen Krebsarten unterscheidet: Er entwickelt sich in über 90 Prozent der Fälle aus Vorstufen heraus, den Polypen. Darmpolypen sind zunächst harmlos und so klein wie ein Stecknadelkopf, tragen aber bereits erste Genveränderungen in sich. Nimmt die Natur ihren Lauf, wachsen die Winzlinge zu immer größeren Polypen heran und entarten innerhalb von bis zu zehn Jahren schließlich zu Krebs. Aus einem harmlosen Adenom ist dann ein Karzinom geworden.

Das lange Zeitfenster bietet eine reale Chance, schneller zu sein als der Krebs. Bei einer Darmspiegelung (Koloskopie) können Ärzte auffällige Veränderungen an der Darmschleimhaut nicht nur entdecken, sondern auch gleich entfernen, bevor sie bösartig werden.

Darum ist die Vorsorgekoloskopie mehr als Krebsfrüherkennung: eine echte Vorsorge. „Die Vorsorgekoloskopie ist eine Früherkennungsuntersuchung, mit der man Krebs verhindern kann“, sagt Wolfgang Spitz, Gastroenterologe aus Zehlendorf. „Wir können damit tatsächlich Leben retten.“ Sie wurde 2002 im Rahmen des gesetzlichen Früherkennungsprogramms eingeführt. Männer haben ab 50, Frauen ab 55 Jahren Anspruch darauf. Die Untersuchung kann bis zum 75. Lebensjahr bzw. nach zehn Jahren noch einmal wiederholt werden. Wenn Auffälligkeiten gefunden werden, natürlich auch öfter. Obwohl der Nutzen inzwischen gut belegt ist und Personen ab 50 eine schriftliche Einladung von ihrer Krankenkasse bekommen, schrecken immer noch viele davor zurück. Das liegt wohl hauptsächlich an der Vorbereitung, die aufwändiger ist als ein Stuhltest, dafür aber auch zu sehr viel zuverlässigeren Ergebnissen führt.

Der Darm muss nämlich komplett sauber, sprich entleert sein, damit der Arzt die Koloskopie unter optimalen Sichtbedingungen durchführen kann. Darum darf man knapp 24 Stunden vor der Untersuchung nichts Festes mehr essen und muss zwei scheußlich schmeckende Darmspüllösungen trinken – eine am Vorabend und eine am Morgen des Untersuchungstags. Und man wird so viel Zeit auf der Toilette verbringen, bis das Ausgeschiedene so klar und flüssig ist wie Kamillentee. Angenehm ist das nicht, besonders für ältere und geschwächte Menschen, die laut Spitz „auch mal umkippen“ können. „Das größte Risiko ist die Vorbereitung“, sagt er.

Das Anstrengendste ist die Vorbereitung auf die Koloskopie

Doch wer die Abführprozedur hinter sich gebracht hat, hat das Schlimmste bereits überstanden. Die eigentliche Untersuchung ist schmerzfrei und gilt als sehr sicher. Genau wie Propofol, das Schlafmittel, das heute fast vor jeder Endoskopie über einen Venenzugang gegeben wird. „Propofol ist keine Vollnarkose, sondern ein Schlafmittel mit einer extrem kurzen Wirkdauer“, stellt Spitz landläufige Fehlannahmen richtig. Das Mittel erlaube den Patienten, den ambulanten Eingriff „buchstäblich zu verschlafen“, sagt der Facharzt für Magen-Darm-Erkrankungen, „aber gleich danach wieder fit und klar im Kopf zu sein.“

Während der Patient fest schläft, führt der Arzt über den Anus das Koloskop in den Dickdarm ein. Das Instrument verfügt über eine Lichtquelle und eine kleine Kamera, so dass der Arzt den rund 1,5 Meter langen Dickdarmarm über einen Monitor Schritt für Schritt nach Schleimhautveränderungen absuchen kann. Außerdem kann er über winzige Arbeitskanäle spezielle Instrumente in den Darm bringen und damit kleine Eingriffe durchführen. Kleine Polypen wird er mit einer Zange entfernen, größere mit einer Schneide- oder einer elektrischen Schlinge.

Nach 20 bis 30 Minuten ist alles vorbei. Der Patient wird sich in einem Aufwachraum wiederfinden, darf sich ausruhen und bespricht dann mit dem Arzt die Ergebnisse. Auch das Kohlendioxid, mit dem der Darm für die Untersuchung aufgepumpt wurde – bis vor wenigen Jahren nutzte man noch Raumluft – ist zu diesem Zeitpunkt bereits abgeatmet. „Wenn die Patienten wach werden, ist der Bauch schon wieder flach, die ganzen Schmerzen und das Kneifen und Zwicken gibt es nicht mehr“, beruhigt Spitz. Die Mehrheit der Teilnehmer wird mit einem negativen Befund nach Hause gehen. Ihnen wird also noch in der Arztpraxis ihre Darmgesundheit bestätigt. Besonders aufatmen aber dürften jene 20 bis 25 Prozent, bei denen kleine Polypen oder fortgeschrittene Adenome (rund sieben Prozent) gefunden wurden. Ihnen bleibt dank des Eingriffs eine sich anbahnende Darmkrebsdiagnose erspart.

Um sicher zu gehen, dass sich in dem Gewebe nicht doch Krebszellen befinden, wird jeder entnommene Polyp anschließend von einem Pathologen im Labor bewertet. Nur bei einem von Hundert Untersuchten finden die Ärzte tatsächlich Darmkrebs vor. In rund 70 Prozent der Darmkrebsfälle handelt es sich jedoch um Krebs in einem frühen Erkrankungsstadium, der dann fast immer noch heilbar ist. „Seit Einführung der Vorsorgekoloskopie sinkt die Sterbequote kontinuierlich“, fasst Wolfgang Spitz den Nutzen des Screenings zusammen, und fügt noch hinzu: „Der Aufwand lohnt sich für jeden.“

 

© Beatrice Hamberger, Tagesspiegel 15.3.2024