Wegen der Pandemie hat die Krebsvorsorge gelitten, viele Tumore werden zu spät entdeckt und behandelt
Von Adelheid Müller-Lissner
Der Diagnosestau in der Covid-19-Pandemie, etwa beim Dickdarmkrebs, kann dazu führen, dass Erkrankungen schwerer zu behandelnde Stadien erreichen.
Ein Witwer erstreitet 50 000 Euro Schmerzensgeld, weil bei seiner verstorbenen Frau ein seltener Tumor zu spät erkannt wurde. Das Sarkom im Oberschenkel hatte bei der verspäteten Diagnosestellung bereits Metastasen gebildet – was möglicherweise durch eine rechtzeitige Behandlung hätte vermieden werden können.
Der Fall, über den jetzt vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main entschieden wurde, führt vor Augen, wie wichtig der Faktor Zeit oft ist, wenn es um die Behandlung von Tumorerkrankungen geht. Für Brustkrebs, Darmkrebs, Hautkrebs und einige andere gibt es deshalb seit Jahren Früherkennungsuntersuchungen.
Der nun vor Gericht verhandelte Fall stammt aus dem Jahr 2010. Doch möglicherweise ereignen sich vergleichbare Fälle auch heute, seit Monaten: aufgrund der Angst vor einer Infektion mit Sars-CoV-2 in Praxen oder Kliniken und aufgrund der angespannten Lage im Gesundheitssystem in der Pandemiezeit. Auf drohende Langzeitfolgen verschleppter Diagnosen und verschobener Therapien wiesen kürzlich das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ), die Deutsche Krebsgesellschaft und die Deutsche Krebshilfe in einem gemeinsamen „Notruf an Politik und Bevölkerung“ hin.
Die drei Institutionen haben gemeinsam schon im letzten Jahr eine „Corona Task Force“ gegründet, um die Versorgungssituation von Krebspatienten in Deutschland während der Pandemie zu beobachten und zu analysieren. Dabei geht es immerhin um rund 500 000 neue Diagnosen in jedem Jahr. Selbst in großen Krebszentren sehen die Experten deutliche Verzögerungen bei Untersuchungen und Behandlungen. „Wir müssen nun mit unseren Warnungen im Ton deutlicher werden“, sagt Michael Baumann, Leiter des DKFZ in Heidelberg.
Dass die erste Covid-19-Welle im Frühjahr 2020 Auswirkungen auf die Entdeckung und Behandlung von Krebs hatte, belegt ein Beitrag, der im November 2020 im „Deutschen Ärzteblatt“ erschienen ist. Der Onkologe Stefan Fröhling und der Epidemiologe Volker Arndt und ihre Arbeitsgruppe haben für die Taskforce ab März 2020 über fünf Monate hinweg per Fragebogen in den 18 Comprehensive Cancer Centers (CCC) der Republik nachgefragt, wie sich Diagnostik und Therapie dort infolge der Pandemie veränderten. Die Zentren betreuen knapp 20 Prozent der neuerkrankten Krebspatienten.
Fast alle berichteten über eine Verringerung wichtiger therapiebegleitender Angebote wie psychologische Betreuung, Ernährungs- und Bewegungstherapie oder auch Nachsorge. In über einem Drittel aller Rückmeldungen wurde über Veränderungen bei der bildgebenden Diagnostik berichtet, zudem seien viele Chemotherapien und Transplantationen von Stammzellen aufgeschoben worden.
Kaum zurückgestellt wurden dagegen onkologische Operationen mit hoher Dringlichkeit. Mitte Mai gab es den Befragungen zufolge zudem eine leichte Erholung bei den aufgeschobenen Krebstherapien, doch noch im Herbst sei das Ausgangsniveau von vor der Pandemie nicht wieder erreicht worden. Die Autoren betonen, die Einschränkungen in der Akutversorgung seien nicht anhaltend oder gar bedrohlich, für die Betroffenen jedoch eine zusätzliche Belastung.
Besorgnis erregt auch, dass die Zentren einhellig berichten, in der ersten Welle der Pandemie hätten deutlich weniger Menschen bei ihnen wegen eines Krebsverdachts Rat gesucht. Ähnliches wurde bereits für Herzinfarkte und Schlaganfälle berichtet.
Für eine im Juli in „The Lancet Oncology“ erschienene Modellierungs-Studie aus Großbritannien nahm eine epidemiologische Arbeitsgruppe um Camille Maringe von der London School of Hygiene & Tropical Medicine Daten des National Health Service für vier Krebsarten aus den Jahren 2010 und 2012 als Ausgangsbasis und verfolgte sie jeweils über fünf Jahre. Die Forscher:innen kommen zu dem Schluss, dass im vereinigten Königreich infolge der Corona-Pandemie in den nächsten Jahren 3000 bis 4000 Menschen mehr an Brustkrebs, Darmkrebs, Lungenkrebs und Speiseröhrenkrebs sterben werden. Zusammengenommen wären das rund 60 000 verlorene Lebensjahre aufgrund eines verfrühten Todes.
Baumann hofft, dass es in Deutschland nicht ganz so schlimm kommen wird. „In Großbritannien sind wahrscheinlich deutlich mehr Untersuchungen und Operationen ausgefallen“, meint der Krebsmediziner. „Was in Deutschland jahrelang zu undifferenziert als Überkapazität im Gesundheitssystem verunglimpft worden ist, verschafft uns jetzt eine Reserve.“ Er rechnet aber auch für die Bundesrepublik mit „Zahlen, die uns erschrecken werden“.
Nur werden sie im Vergleich zu Großbritannien erst verzögert eintreffen und möglicherweise ungenau sein. Modellierungen sind auf dieser Basis unmöglich. Deutsche Krebsmediziner fordern deshalb seit Jahren eine bessere Daten-Infrastruktur. „Im Moment bleibt uns nur die Warnung aufgrund bestehender Indizien“, sagt Baumann.
Sie stammen aus dem umfangreichen Fragebogen, den die CCCs in den verschiedenen Regionen weiterhin jeden zweiten Monat ausfüllen. Baumann nennt ihn „semiquantitativ“ und fügt hinzu: „Besser kann man es derzeit nicht machen.“ Ergänzend können sich die Krebsmediziner auf Abrechnungsdaten von Krankenkassen und Berichte einzelner Krankenhäuser stützen. „Sie ergeben ein sehr einheitliches Bild“, sagt Baumann. Die Operationszahlen sind im letzten Jahr diesen Datensätzen zufolge gesunken, zusätzlich zeigen Daten von Laborärzten, dass Untersuchungen auf Blut im Stuhl deutlich seltener durchgeführt wurden.
Beim Mammografie-Screening für Frauen zwischen 50 und 69 Jahren, das pandemiebedingt zeitweise ausgesetzt wurde, hat man inzwischen wieder aufgeholt. Bei den Darmspiegelungen sei das noch nicht ganz geglückt, sagt Baumann. „Aber verlässliche Zahlen fehlen noch.“
Dass Vorstufen von Krebs bei einer Darmspiegelung ein paar Monate später als geplant entdeckt und entfernt werden, ist in den meisten Fällen nicht problematisch. „Gefährlich ist aber, wenn Krebs nicht im frühem Stadium entdeckt wird, in dem er nur sehr, sehr selten metastasiert“, sagt der Onkologe. „Das kann bei einigen Krebsformen innerhalb von Monaten passieren. Dann wird aus einer fast immer heilbaren Erkrankung eine Krankheit mit hohem Todesrisiko, auf jeden Fall werden aber stärker belastende Behandlungen nötig.“ Bei sehr schnell wachsenden Tumoren macht genau diese Verzögerung unter Umständen den Unterschied: Die Behandlung kann dann keine Heilung mehr bringen.
Die Hilferufe von Mitarbeitern überlasteter Intensivstationen gehören inzwischen zum Fernsehalltag. Dass auch Krebspatienten von Engpässen hier mittelbar betroffen sind, macht man sich weniger klar. Zwar hat die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie in ihren Empfehlungen dazu, welche Patienten im Notfall prioritär zu behandeln seien, Tumorpatienten direkt nach Notfalleingriffen gelistet. Doch aufwändige Operationen sind unmöglich, wenn die Klinik keine freien Betten auf den Intensivstationen in der Hinterhand hat. „Autounfälle werden selbstverständlich wie gewohnt behandelt, es leiden aber die Patienten, die zwar nicht akut lebensbedrohlich erkrankt sind, aber dennoch dringlich therapiert werden müssen“, sagt Baumann. Beim Krebsinformationsdienst in Heidelberg meldeten sich in den vergangenen Monaten deshalb vermehrt Patienten mit der Frage, wo sie sich denn operieren lassen könnten. Wie Covid-19-Patienten könnte man auch sie bei Bedarf in andere Bundesländer verlegen. Doch auch hier ist der Datenaustausch der Dreh- und Angelpunkt.
Vor allem in der ersten Welle ist hinzugekommen, dass viele Bürgerinnen und Bürger sich aus Angst vor Ansteckung mit dem unbekannten Virus lieber überhaupt nicht in eine Klinik oder Facharztpraxis begeben haben. Menschen mit schon bekannter Krebsdiagnose und geschwächtem Immunsystem waren in dieser Hinsicht besonders vorsichtig. „Es waren aber auch Menschen dabei, die einfach rücksichtsvoll sein und mit ihren Anliegen nicht zusätzlich zur Überlastung des Gesundheitssystems beitragen wollten“, sagt Baumann.
Was diese erste Welle betrifft, so fände er es unfair, der Politik für all das die Verantwortung zuzuschreiben. „Sie musste schließlich mit einem Naturereignis fertig werden.“ Dass Forscher und Forscherinnen sich in dieser Situation sofort über Ländergrenzen hinweg verknüpften und Informationen weitergaben und dass auf diese Weise schnell Impfstoffe entwickelt werden konnten, findet der Forscher sensationell. „Wir müssen aber in Zukunft deutlich alerter sein, damit wir unsere Strukturen auch in einer solchen Krise besser aufrechterhalten können.“
Zitiert aus „Der Tagesspiegel“